UNTERNEHMEN MÜSSEN SICH NOCH MEHR VERNETZEN

Interview Die rasante Entwicklung digitaler Technologien revo­lu­tioniert die industrielle Landschaft. Sie eröffnet neue Horizonte, birgt aber auch vielfältige Herausforderungen. Wir sprechen mit Prof. Dr. Isabell M. Welpe darüber, welche Chancen diese Technologien schaffen und wie sie zugleich etablierte Erfolgsfaktoren umkrempeln.

DIE DIGITALEN TECHNOLOGIEN ERÖFFNEN DER INDUSTRIE NEUE MÖGLICHKEITEN. WO SEHEN SIE DIE CHANCEN, WO DIE HERAUSFORDERUNGEN?

Die digitalen Technologien eröffnen zunächst einmal Chancen. Sie machen Dinge wirtschaftlich, die bisher nicht wirtschaftlich waren. Das heißt aber auch: Die Erfolgsfaktoren verändern sich. Das, was Unternehmen bisher erfolgreich gemacht hat, hilft ihnen heute und morgen unter Umständen nicht mehr weiter. Manchmal wird ein Erfolgsfaktor sogar zu einem Misserfolgsfaktor. Früher haben Assets wie Gebäude und Maschinen den Wettbewerb ferngehalten. Die Digitalisierung hat das verändert. Mit ihr kommen neue Wettbewerber auf den Markt, ohne dass sie in diese Assets investieren müssen. Sie setzen sich in der Wertschöpfungskette einfach dazwischen und machen manchmal aus bisherigen Marktführern Zulieferer. Sie greifen einen überproportionalen Anteil der Marge ab. Nur eines von vielen Beispielen dazu: Airbnb besitzt keine Gebäude, hat aber eine höhere Bewertung als Hilton. Man kann sagen, das sei ungerecht. Das aber ist keine Kategorie in der Geschäftsstrategie.

Erfolgreiche Unternehmen organisieren ihre Prozesse um das Kundenerlebnis herum. «

Prof. Dr. Isabell M. Welpe

WAS SIND DIE NEUEN ERFOLGSFAKTOREN?

Erfolgreiche Unternehmen organisieren ihre Prozesse heute um das Kundenerlebnis herum. Sie fragen sich: „Wie muss ich mich ausrichten, damit meine Kunden ein positives Erlebnis erhalten?“ Gleichzeitig geht es darum, strategisch Schnittstellen offenzulegen, um die Möglichkeit für neue Kollaborationen zu schaffen. Denn die entscheidenden Innovationen kommen — für das technologiestarke Deutschland leider — nicht mehr immer über die Technik, sondern über neue Prozesse, neue Wertschöpfungsketten und neue Formen der Zusammenarbeit. Das heißt, dass sich Unternehmen noch mehr öffnen und vernetzen müssen: mit der Branche, aber auch über die eigene Community hi­-naus, mit Start-ups, Konkurrenten oder der Politik. Kurz: mit allen, die für das eigene Geschäft und seine Zukunft interessant sind. Auch der Austausch mit Hochschulen gehört dazu. Viele der digital erfolgreichen Unternehmen sind eng mit den Orten vernetzt, an denen Wissen entsteht. Auch Konferenzen für Entwickler:innen, bei denen man bekannt gibt, was die Schnittstellen sind und wie die Entwickler digitale und analoge Lösungen für die eigenen Produkte entwickeln können, sind zu empfehlen. Das Schöne daran ist, wenn das gelingt, hat man weltweit Entwickler, die das eigene Produkt verbessern, die aber nicht auf der eigenen Payroll sind.

HIER HABEN DEUTSCHE UNTERNEHMEN NOCH NACHHOLBEDARF ...

Deutschland ist richtig gut in der Forschung und war und ist das Land der Ingenieurskunst. Auch in der KI-Forschung sind wir in unserem Land exzellent aufgestellt. Wenn es aber darum geht, das Wissen in die konkrete Innovation und Neugründungen und damit in die praktische Anwendung zu bringen, sind andere Länder häufig schneller. Das ist zum Teil sicher auch eine Kulturfrage. Wie hoch ist das Bedürfnis nach Sicherheit? Wie wird Misserfolg bewertet? Welche Rollenmodelle werden uns vorgelebt? In Deutschland ist die Zahl der Unternehmensgründungen in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken. Unter den Studierenden ist der liebste Beruf der des Beamten, nicht der des Entrepreneurs. Hier darf, hier muss sich etwas ändern.

WAS MACHEN DIGITALE UNTERNEHMEN BESONDERS GUT? WAS KÖNNEN KLASSISCHE UNTERNEHMEN VON IHNEN LERNEN?

In Studien hat man eher zufällig herausgefunden, dass erfolgreiche digitale Unternehmen kaum Unternehmensberater:innen beschäftigen. Sie haben eine Kultur entwickelt, Probleme selbst zu lösen. Über Datenexperimente. Über schlichtes Ausprobieren. Und über gutes Zuhören: Wenn eine Firma wissen will, wie sie sich verändern muss, dann ist ein Rat, Top-Talenten in der Firma zuzuhören — auch denen, die sich beworben haben und dann für ein anderes Unternehmen entscheiden. Die Gründe für eine Ablehnung sollte man nicht nur hinterfragen, sondern als Entwicklungsauftrag verstehen und als Anknüpfung für das nächste Projekt.

Vielen Unternehmen täte zudem ein Frühjahrsputz bei ihren Prozessen gut. Für Abläufe und Regeln gab es einen Grund, als man sie eingeführt hat. Aber manchmal verändern sich die Rahmenbedingungen, während die Prozesse bleiben. Das ist wie in einem Keller, in dem sich mit der Zeit vieles ansammelt. Wir reden schnell über Agilität und legen Change-Programme auf. Dabei liegt eine sehr einfache und auch kostengünstigere Lösung bereits darin, die überflüssigen, ineffizienten Dinge zu eliminieren.

WAS KANN EINE FÜHRUNGSKRAFT TUN, UM DIE ORGANISATION AUF DIE NEUE, SCHNELLE WELT EINZUSTELLEN?

Forschungen zeigen: Menschen und Organisationen, mit denen wir uns umgeben, haben großen Einfluss auf unser Leben und auf unseren Erfolg. Das können wir steuern. Ich empfehle Führungskräften, gezielt mehr Zeit mit Menschen anderer Organisationen zu verbringen, die das geschafft haben, was sie selbst noch schaffen wollen. In einem solchen Umfeld braucht das Erfolgslernen kaum Willenskraft. Gewohnheiten, Kontakte, Erkenntnisse färben sozusagen automatisch ab. Man kann im Alltag den Rahmen schaffen für Veränderung: interessante Menschen einladen, die die eigene Industrie oder die Welt bewegen, Innovationskonferenzen besuchen, eigene Konferenzen organisieren. Erfolgreiche Unternehmen heben sich nicht über ihre Ziele ab, sondern über besondere Systeme, Routinen und Prozesse. Hier muss man in den Austausch gehen.

Bundesweit rd. 27% der Unternehmen geben laut einer Studie der Bundes­netzagentur an, eine Digitalisierungsstrategie implementiert zu haben.

Anteile nach
Unternehmensgröße:

69% große Unternehmen

42% mittlere Unternehmen

33% kleine Unternehmen

24% kleinste Unternehmen

Unternehmen mit einer Digitalisierungsstrategie schätzen ihre Digitali­sierungspotenziale höher ein und investieren knapp doppelt so viel in digitale Technologien wie Unternehmen ohne Digitalisierungsstrategie.

Durchschnittliche Investitionen von Unternehmen in digitale Technologien:

rd. 6% des Nettoumsatzes

Quelle: https://www.bundesnetzagentur.de/DE/Fachthemen/Digitalisierung/Mittelstand/Kennzahlen/start.html

WIE SEHEN SIE IN EINER ZUNEHMEND DIGITALER WERDENDEN WELT DIE ROLLE DES PRODUZIERENDEN MITTELSTANDES?

Der deutsche Mittelstand hat sich bisher immer erfolgreich auf den Wandel eingestellt. Und ich bin überzeugt, dass er es weiter tun wird. Solange wir eine physische Existenz haben, brauchen wir exzellente Maschinen, Produktionsanlagen – und das alles in der Qualität, Zuverlässigkeit und Leistungsstärke, die man vom deutschen produzierenden Mittelstand seit Jahrzehnten kennt. Diese Maschinen zu bauen, erfordert komplexe Fähigkeiten, um die uns viele in der Welt beneiden. Wenn es uns jetzt noch gelingt, die Hardware ein Stück weiter mit der digitalen Welt zu verknüpfen, dann entsteht ein Wettbewerbsvorteil, den andere nur schwer kopieren können. Wir haben viele Weltmarktführer, aber nicht im digitalen Bereich. Das sollte sich ändern. Denn die großen Entwicklungspotenziale liegen in den digitalen Modellen.

Prof. Dr. Isabell M. Welpe

ist seit 2009 Inhaberin des Lehrstuhls für Strategie und Organisation an der Technischen Universität München und seit 2014 Wissenschaftliche Leiterin des Bayerischen Staatsinstituts für Hochschulforschung und Hochschulplanung (IHF). Die Expertise von Professor Welpe umfasst die digitale Transformation von Unternehmen, die Auswirkungen von digitalen Technologien auf Wirtschaft und Organisationen sowie die Zukunft von Führung und Arbeits-/Organisationsgestaltung. Seit 2023 ist Isabell M. Welpe Mitglied im INDUS-Aufsichtsrat.

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